WG6 – Briefentwurf an Alma Mahler
Wien nach Berlin im Schlafwagen, in der Nacht von Sonntag, 17. auf Montag, 18. Juli 1910
Schlafwagen – Berlin
Ich bin wieder ganz
bei Dir, ich gehe noch nicht
zu Bett, Schlaf habe ich
lange nicht gesehn. Ich
lief in Wien zum Hotel
Br.[istol] fand kein liebes
Wort von Dir, Du wirst
nicht fort gekonnt haben,
da Du liegst. Dann ging
ich zum Stefan, der einzige \da es für mich/
der einzig \um einen/ würdige Ort
für meine ernsten Gedanken
sein \zu haben/. Ich konnte zum ersten
Mal wieder atmen.
Ich bin über dem
Papier vor Ermattung
eingeschlafen, nun ist
es morgen und die
grenzenlose Sehnsucht
nach Dir u Deiner Liebe
\die mich vielemal aus d Schlaf scheuchte/
bricht mit dem neuen Tage
unverringert an. Aber ich
fühle beständig wie mich
Deine Blicke und Dein
Sehnen verfolgt \und \die/ mich mit Deiner schützenden Liebe umgiebt/. Ich bin
schrecklich weit von Dir
fort, es ist furchtbar
schwer, was Menschen ertragen
müssen. Ich bin nun
für Monate werde ich
nun einsam sein
müssen ohne Dich? aber
auch ohne Mutter dem einen
lieben Menschen dem ich mein
überströmendes Herz ein
wenig ausschütten könnte
\veränderter Mensch.
Weiber/
Apparat
Überlieferung
, , , .
Quellenbeschreibung
2 Bl. (2 b. S.) – Notizblock.
Druck
Erstveröffentlichung.
Korrespondenzstellen
keine.
Datierung
Am 17. Juli 1910 trat WG seine Rückreise von Tobelbad an (s. WG5), die ihn zuerst nach Wien führte, von wo aus er den Nachtzug nach Berlin nahm. Während der Fahrt mit dem Schlafwagen schrieb er den ersten Teil des vorliegenden Briefentwurfs noch am Abend des 17. Juli (gehe noch nicht zu Bett), den zweiten Teil am Morgen des 18. Juli 1910 (Ich bin über dem Papier vor Ermattung eingeschlafen, nun ist es morgen).
Übertragung/Mitarbeit
(Marie Apitz)
(Jannik Franz)
Hotel Br.[istol] – das Hotel Bristol am Kärntnerring 3 in Wien. Offensichtlich hatten und ungenaue Absprachen getroffen, wie sie direkt nach der Abreise aus Tobelbad in Verbindung bleiben wollten, s. AM3 vom 18. Juli 1910.
da Du liegst – Im gesamten Briefwechsel, besonders jedoch im Juli 1910, finden sich immer wieder Formulierungen wie da du liegst oder ich bin im Bett (AM4 vom 18. und 19. Juli 1910), oder sie liegt im Bett und kann die Briefe an Sie erst abschicken[,] wenn sie wohl ist (AMo1 vom 22. Juli 1910). Diese Anspielungen auf Unwohlsein beziehen sich auf ihre Menstruation, während derer sich offensichtlich Bettruhe verordnete und dementsprechend auch keine Briefe zur Post bringen konnte. Ob dies mit begleitenden Krämpfen, anderweitigen Beschwerden oder gesellschaftlichen Konventionen zu tun hatte, lässt sich nicht eindeutig klären. Da im Juli 1910 der Briefwechsel zwischen und gerade erst begonnen hatte und außerdem die Hoffnungen und auf eine Schwangerschaft durch das Einsetzen der monatlichen Blutung bei zerstört wurden, schien das Thema bei allen Beteiligten besonders präsent.
Stefan – Gemeint ist der Wiener Stephansdom, den während seines Zwischenstopps in Wien besuchte, um über die Geschehnisse zu kontemplieren, s. WG5 vom 17. Juli 1910.
würdige Ort – verwendete diese Passage fast wortgleich in WG5 vom 17. Juli 1910 an AMs Mutter, : Liebe , meine kurze Pause hier habe ich dem Stefansdom [!] gewidmet, er erschien mir der einzig würdige Raum für meine ernsten Gedanken.